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Die Spätnachmittagssonne taucht die Düsseldorfer Altstadt in ein warmes, goldenes Licht. Menschen schieben sich durch die engen und verwinkelten Gassen, während in der Luft der Duft von Altbier, Bratwurst und frisch gebackenen Brötchen liegt. Gesprächsfetzen wehen im Wind vorbei, begleitet vom Klirren der Gläser und der Musik, die aus den überfüllten Lokalen nach draußen dringt. Die Stadt ist wie immer: laut, überfüllt und auf ihre eigene Weise trotzdem schön.

 

Zwischen all den lachenden und plaudernden Menschen, die durch die Gassen ziehen, sitzt Malte auf einer alten, abgewetzten Wolldecke vor einem Bäckerladen. Mit ruhigem, beinahe abwesendem Blick verfolgt er das geschäftige Treiben, als wären seine Gedanken ganz woanders und doch zugleich nah bei dem, was um ihn herum geschieht. Vor ihm steht ein Pappbecher, in dem einige Münzen matt im Sonnenlicht schimmern. In seiner verschlissenen Jacke und mit dem ungepflegten Bart wirkt er wie jemand, den das Leben aufgegeben hat. Gerade dreht er sich eine Zigarette, seine Finger gleiten dabei langsam und bedacht über das Papier. Eine kleine, vertraute Routine in einem ansonsten unberechenbaren Alltag.

 

"Mit ’nem Hund würdest du mehr kriegen." Die Stimme ist aufdringlich, jung und ein wenig zu selbstsicher. Sie steht da, mit einem Coffee-to-go-Becher in der einen Hand, einer bunten Stofftasche in der anderen und großen Kopfhörern um den Hals. Sie ist Anfang zwanzig, schmal gebaut und hat diese Art von Gesicht, das man auf den ersten Blick nicht beschreiben kann, aber beim zweiten nie mehr vergisst. Ihre Jeansjacke wirkt etwas zu groß.

 

"Aha!", murmelt Malte, ohne den Blick zu heben. "Ich könnte vielleicht auch noch mit brennenden Bällen jonglieren, mit verbundenen Augen." Seine Stimme klingt rau und hat einen unerwarteten, spöttischen Unterton. Er streicht sich mit einer Hand über den Bart.

 

Sie verschränkt die Arme. "Jetzt sei mal nicht so empfindlich. Ich will doch nur helfen."

 

"Helfen", lacht Malte trocken. "Ich bin chronisch unterversorgt mit all den Annehmlichkeiten des Lebens, die ich einmal hatte." Er mustert sie von oben bis unten. "Aber ich nehme mal an, das lernt ihr so im Studium, oder? So nach dem Motto: Seht her, ich bin eine gute Bürgerin und kümmere mich um die Randgruppen. Für dich bin ich doch nur ein Objekt, das in dein soziales Gewissen passt. Mach es wie alle anderen: Wirf einen Euro in den Becher, damit sich dein Gewissen besser fühlt und ich etwas Warmes in den Magen bekomme. Dann haben wir beide etwas davon!"

 

"Du hast ja keine Ahnung!", entfährt es ihr, während sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr schiebt. Unsicherheit blitzt in ihren Augen auf. "Ich verbringe meine Nachmittage nicht damit, Leute zu beurteilen, sondern damit, die Welt zu verstehen!"

 

Es folgt ein bedrückendes Schweigen. Sie sieht ihn an, als wolle sie etwas erkennen, das nicht in ihr Bild passen will. Dann setzt sie sich einfach neben ihn auf den Bordstein, die Kälte dringt durch ihre Jeans.

 

"Weißt du was? Jetzt interessiert’s mich. Wie bist du hier gelandet? Also wirklich! Ich heiße übrigens Clara und es stimmt: Ich bin Studentin, Sozialpädagogik, erstes Semester."

 

"Aha, und im ersten Semester lernt ihr gleich, wie man Obdachlose motiviert?" Malte grinst. Der Sarkasmus in seiner Stimme ist unverkennbar, aber hinter der rauen Fassade schimmert ein Hauch von Verletzlichkeit. "Ich weiß es nicht. Vielleicht hattest du Pech? Oder du hast falsche Entscheidungen getroffen?"

 

Das Grinsen weicht einem ernsten Ausdruck. "Pech? Das ist eine schöne Umschreibung für den Arschtritt des Lebens. Und falsche Entscheidungen? Ja, die gab es."

 

"Ich habe Zeit", sagt sie und nippt an ihrem Kaffee.

 

Er sieht sie lange an. Dann nimmt er einen Schluck aus seiner Thermoskanne, kein Alkohol, nur dünner, bitterer Kaffee und zieht die Mütze ein Stück höher.

 

"Na gut", sagt er. "Ich erzähle dir mal eine Geschichte. Meine Geschichte. Eine, die garantiert in keinem deiner Studienbücher steht."

 

Clara kramt in ihrer bunten Stofftasche, zieht eine Banane hervor und hält sie ihm hin. "Banane?" Ihre Geste ist unbeholfen, aber ehrlich gemeint. Für einen Moment löst sich die Schwere der Situation auf.

 

Malte betrachtet sie mit gespielt ernster Miene, als hätte sie ihm gerade einen Goldbarren angeboten. "Na bitte, eine Banane. Wenn du mir jetzt noch ein Westpaket mit Waschpulver bringst, dann glaube ich, wir haben 1989." Er beginnt die Banane langsam zu schälen, als wolle er den Moment auskosten. "Allein dafür hat sich das Gespräch schon gelohnt", sagt er und zwinkert ihr zu.

 

Clara lächelt verhalten zurück. Zum ersten Mal glaubt sie, in seinem Gesicht etwas Warmes, beinahe Verschwörerisches zu sehen. Ein Lächeln, das zu lange keinen Platz mehr hatte. 

 

Sie sitzen einen Moment schweigend da, während das Leben um sie herum weitergeht. Aus der Ferne erklingt der Fangesang der Fortuna-Düsseldorf-Fans, die sich durch die Altstadt schieben: "Nur die Fortuna, ja nur die Fortuna!" Kurz darauf folgt der Konter einiger Schalke-Anhänger, deren "Blau und Weiß, ein Leben lang" dumpf und entschlossen aus einer Seitenstraße hallt. Nach wenigen Minuten verhallen die Gesänge, während die Gruppen weiter durch die Gassen in Richtung Stadion ziehen. Das Lachen und Rufen verlor sich allmählich in der Ferne. Malte sah Clara an und ohne dass sie noch einmal fragen musste, begann er seine Geschichte zu erzählen.

 

"Ich hatte in der Düsseldorfer Altstadt eine kleine, aber feine Brauerei namens «Hopfen zum Glück». Seit Jahrzehnten habe ich den Laden allein geschmissen. Ohne viel Tamtam, dafür mit Leidenschaft und Erfahrung. Jeden Morgen, wenn die Stadt noch schlief und die ersten Sonnenstrahlen den Rhein küssten, war ich schon im Sudhaus. Die Leute liebten mein Bier. Die Bude lief gut, mein Alt war in der ganzen Stadt bekannt, die Touristen kamen von überall her. Bildlich gesprochen und ja, ein bisschen übertrieben, fühlte es sich an wie bei Lindbergh, der den Atlantik überquerte, oder Newton, der die Schwerkraft entdeckte, vielleicht auch wie Armstrong, der auf dem Mond landete. Ich braute erfolgreich mein Altbier.

 

Dann kam Sven, ein Unternehmensberater aus Köln. Köln. Da hätten meine Alarmglocken eigentlich schon Sturm läuten müssen. Ich meine, wer freiwillig in Köln wohnt und uns Düsseldorfern erzählen will, wie man richtig Bier braut, bei dem stimmt doch etwas nicht. Köln ist doch eher ein Zustand als eine Stadt. Die trinken Kölsch aus Reagenzgläsern und machen daraus eine Tradition. Tja, wenn man nichts anderes hat außer den Dom." Malte zuckte mit den Schultern.

 

"Jedenfalls stand Sven plötzlich in meiner Brauerei. Er trug Designer-Sneaker, eine schmale Brille und gefühlt mehr Ringe an den Fingern als Finger selbst. Einer von der Sorte, die aus allem «mehr» machen wollen. Er hat das Alt probiert, genickt wie ein Weinverkoster und gesagt: ‘Malte, dein Alt ist richtig gut. Aber da geht noch mehr.’"

 

"Was soll das heißen, mehr? Ich habe hier jeden Abend den Laden voll. Das reicht doch." Aber Sven grinste nur und sagte: "Ja, schon. Aber stell dir vor: Dein Alt verkauft sich nicht nur in Düsseldorf, sondern auch in Hamburg, Frankfurt und vielleicht sogar im Ausland."

 

Ich musste lachen. "Und dann? Kommen hier Anzugträger rein und wollen WLAN zum Bier? Nee, lass mal."

 

"Du musst ja nicht alles ändern", hat er gesagt. "Ich bringe die Ideen mit, kümmere mich um den Papierkram. Du bleibst der Braumeister. Dein Bier verdient mehr als nur die Altstadt."

 

Ich habe geschwiegen und mich umgesehen, als sähe ich meinen Laden zum ersten Mal. Die alten Holzbänke, die abgewetzten Tische, das Licht, das durch die kleinen Fenster fiel. "Na ja", habe ich gesagt. "Ideen hatte ich nie viele. Aber Bier brauen, das kann ich. Und am Ende ist es doch so: Erfolg heißt oft einfach, die Chancen zu nutzen, die einem das Leben vor die Füße wirft."

 

"Ein paar Tage später saß ich mit Sven an einem meiner Biertische, während er mir einen Stapel Papier unter die Nase hielt, dick wie ein Telefonbuch. ‘Reine Formsache’, sagte er und schob mir einen Kugelschreiber hin. ‘Für den Vertrieb. Und das Finanzamt. Und wegen Haftung, du weißt schon.’ Ich wusste nicht!"

 

"Malte", setzte er noch einmal an, "du willst doch einfach brauen, oder? Keine Sorgen um Rechnungen, keine Anträge, kein digitaler Wahnsinn. Nur du und dein Bier." 

 

"Das war das Erste, was er sagte, das wirklich Sinn ergab. Also hab ich unterschrieben. Mehrmals. An vielen Stellen. ‘Perfekt’, grinste Sven. ‘Jetzt sind wir ein Team.’ Ich wurde noch immer nicht stutzig. Stattdessen habe ich ihm die Hand geschüttelt und ein Alt eingeschenkt. Und mir gleich eins hinterher."

 

"Ein paar Wochen später prangte ein neues Schild über der Tür: «Hopfen zum Glück - eine Marke der AltVision GmbH». Sven nannte sich fortan CEO. Ich wusste ehrlich gesagt nicht einmal, was das heißen sollte. Mir war es egal. Ich braute mein Altbier weiter wie immer, die Leute waren zufrieden wie immer, und das war alles, was für mich zählte."

 

Clara zieht die Knie an die Brust und schaut Malte nachdenklich an. Der Trubel um sie herum scheint leiser geworden zu sein, als hätte die Altstadt kurz den Atem angehalten. Sie nippt an ihrem Kaffee, sagt aber nichts. Malte streicht sich über den Bart und nimmt ebenfalls einen Schluck aus seiner Thermoskanne. Dann atmet er tief durch, lehnt sich gegen die kühle Steinwand und fährt fort.

 

"Der Tag hatte eigentlich ganz gut angefangen, bis Sven mit dem Satz ‘Wir brauchen Struktur’ die Tür aufstieß und mein Brauerherz erschüttert wurde. ‘Ich hab da jemanden, du wirst sie lieben.’ Am nächsten Tag stand Moni in meiner Brauerei. Sportlich, höchstens 30 Jahre alt, gebürtig aus Leverkusen. Meine Alarmglocken versagten erneut. Sie stellte sich als «Leiterin Prozessoptimierung» vor. Sven strahlte: ‘Moni war vorher bei einem Start-up für vegane Energy-Drinks’. ‘Mit Chiasamen’, ergänzte Moni und nickte bedeutungsvoll. Sie stellte ihren Laptop auf den Tresen. Genau genommen war es kein Laptop, sondern ein Altar. Und dann begann auch schon die Messe."

 

"Also, Malte, das hier ist dein monatlicher Wareneinsatz. Hier sind die Personalkosten. Und hier siehst du die Durchlaufquote pro Stunde. Und hier …"

 

"Irgendwann war ich raus und habe nichts mehr verstanden. Nicht, weil ich zu blöd war, sondern weil mich das alles schlicht nicht interessierte. Ich braute Bier, mein Business war nicht das Controlling. Während Moni weiterredete, irgendetwas von Margen, Prognosen und Soll-Ist-Vergleichen, starrte ich nur noch auf ein Diagramm. Ich nickte regelmäßig, in der Hoffnung, sie würde das nicht als Zustimmung deuten."

 

"Und das hier", sagte sie schließlich und zeigte auf eine Tabelle, die sie mit einem dramatischen Schwung ihres Touchpads aufrief, "ist dein monatlicher Zielkorridor."

 

"Mein was?", antwortete ich irritiert.

 

"Zielkorridor. Damit wir die KPIs im grünen Bereich halten."

 

Ich sah sie an. Das Blut in meinen Adern raste.

 

"Ich habe kein KPI, nur eine KPA: Kaltes. Perfektes. Altbier. Falls Sven dir das nicht gesagt hat: Ich braue Bier."

 

"Und das ist auch wunderschön", erwiderte sie, "aber ohne Kennzahlen wirst du auf Dauer keinen Erfolg haben. Ohne Big Data kein Fortschritt." Damit drehte sie sich um und ging.

 

Clara sah ihn an, als würde sie prüfen, ob das der Schlusspunkt war oder erst der Anfang. "Und?", fragte sie leise. "Was kam dann?"

 

Malte zuckte mit den Schultern. "Ich trug also Zahlen ein. Wie viele Liter gebraut oder wie viele Gläser ausgeschenkt wurden und zig andere vermeintlich wichtige Daten". Er lächelte schief. "Und ich braute ein bisschen weniger Bier. Ich kann mich noch gut an einen Gedanken von mir erinnern: ‘Ab heute scheitern wir heiter!’"

 

Clara rührte in ihrem Pappbecher. "Und dann?"

 

"Dann kam Fabian. Er trug immer Hemden in Pastellfarben und hatte einen Händedruck wie ein Versicherungsmakler. Fabian sprach so schnell, dass jedes Maschinengewehr vor Neid erblassen würde. Er war irgendwas mit «digital». Er sagte, er würde mir die Brauerei «zukunftsfähig» machen und richtete sich ein Büro mit Rheinblick ein, samt Espressomaschine und einem Kühlschrank voller exotischer Limonaden. Dann drückte er mir ein iPad in die Hand und sagte: ‘Ohne Digitalisierung kein Fortschritt!’ und installierte eine App, die beispielsweise den Gärprozess in Echtzeit visualisierte. Ich fragte ihn, warum ich mir mein eigenes Bier plötzlich in bunten Grafiken anschauen sollte, statt es einfach zu probieren. Fabian meinte, Transparenz sei der erste Schritt zum Kunden. Ich habe mir erspart zu fragen, wie der zweite Schritt aussieht."

 

Clara grinste. "Und? Hat’s funktioniert?"

 

"Das kommt darauf an, was du unter «funktionieren» verstehst. Fabian hat jedenfalls regelmäßig Screenshots von der App auf LinkedIn und Instagram gepostet. Mit so Sätzen wie «Wir brauen das Bier der Zukunft» und «Braukunst 4.0». Am Ende wussten mehr Leute, wie mein Bier aussieht, als wie es schmeckt."

 

Er machte eine kurze Pause, nahm einen Schluck Kaffee und fuhr fort.

 

"Irgendwann sagte Moni, meine Laune wirke sich negativ auf die Teamdynamik aus. Ich habe sarkastisch gefragt, woran das wohl liegen mag? Dieses ganze studierte Pack! Teamfähigkeit heißt bei denen: lächeln, auch wenn du innerlich längst gekündigt hast. Na egal, daraufhin wurde Vanessa eingestellt. Sie war für Gesundheit und Wohlbefinden zuständig. Sie hat morgens Smoothies verteilt und nachmittags mit mir Atemübungen gemacht. Ich sollte mich mehr öffnen, hat sie gesagt."

 

Clara grinste frech. "Und? Hast du dich geöffnet?"

 

Malte schnaubte. "Nur die Bierleitung. Dann hat Vanessa angefangen, an meiner Körpersprache zu feilen. Sie meinte, ich solle mehr strahlen. Ich habe ihr erklärt, dass ich kein Atomkraftwerk bin. Manche Menschen sind wie Pop-ups: nervig, aufdringlich und irgendwie überflüssig, so wie Vanessa eben."

 

"Und dann?", fragte Clara, leicht ungläubig.

 

"Dann kam das große Meeting", sagte Malte. "Da saßen wir alle im Besprechungsraum: Fabian, Moni, Vanessa und ein Typ mit Headset, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Dann sagte dieser jemand: ‘Die Stimmung bei euch ist toxisch. Ihr braucht ganz dringend »Change Management»’ und stellte sich als Björn vor, ein «Transformations-Coach». Er trug einen Hoodie mit der Aufschrift «Entfalte dein inneres Ich», als wäre er direkt aus einem Podcast gestiegen. Er sprach viel von Synergie-Bubbles und emotionaler Agilität. Er stellte Flipcharts auf, stellte sich in die Mitte wie so ein Moderator in einer billigen Samstagabendshow und fragte: ‘Was hält euch davon ab, wirklich zu performen?’ Ich antwortete: Vielleicht der Umstand, dass ich eigentlich Bierbrauer bin."

 

"Hat er verstanden?"

 

"Er hat genickt und ‘Danke fürs Öffnen und Teilen’ gesagt. Dann hat er das Wort an Vanessa übergeben, die eine Feel-Good-Checkliste verteilte. Darauf standen Dinge wie «Morgens bewusst atmen» und «Feedback als Geschenk betrachten». Irgendwann habe ich gar nichts mehr gesagt. Stattdessen bin ich morgens in die Brauerei geschlichen, habe mir ein Alt aufgemacht, mich auf einen Hocker gesetzt und still in mich hineingeweint."

 

Clara sagte nichts, sie sah ihn einfach nur an. Mit einem Blick, der nicht urteilte.

 

"Die Brauerei", fuhr Malte fort, "produzierte kaum noch Bier. Dafür stapelten sich die Daten. Wir hatten Reportings, Auswertungen und Heatmaps. Jede Woche gab es neue Diagramme, und jede Woche weniger Alt im Lagertank. Wir wussten alles über unser Nicht-Bier. Als die Zahlen dann fielen, sie mussten ja fallen, da wir immer weniger gebraut hatten, kam Beraterin Isabell. Sie analysierte alles: Pivot-Tabellen, KPI-Dashboards und SWOT-Analysen. Nach drei Monaten erklärte sie in einem PowerPoint-Vortrag: ‘Das Hauptproblem ist klar: Malte ist nicht produktiv genug und zu teuer.’"

 

Malte schaute Clara an. "Kennst du die alten Godzilla-Filme? Die liefen Ende der 1970er Jahre im Kino, sonntagvormittags, für drei Mark Eintritt." Clara schüttelte den Kopf. "So hat es sich für mich angefühlt: Ich war Tokio und Sven, Moni, Fabian, Vanessa, Björn und Isabell waren zusammen Godzilla. Ihr Plan: Tokio vernichten."

 

Er blickte in die Ferne. Die Nachmittagssonne spiegelte sich in den Fenstern gegenüber. "Ist ihnen dann letztendlich auch gelungen. Sie haben mich rausgeworfen. Aus der Brauerei, die ich gegründet habe. Mit Handschlag und einem Gutschein für ein Achtsamkeitsseminar. Sven meinte, das sei kein Abschied, sondern ein Neuanfang. Ein Rausschmiss mit Schleife. Härter hätte der Aufprall nicht sein können."

 

"Krasser Scheiß, das konnten die doch nicht einfach so machen. Du hast den Laden gegründet! Wie ging es weiter?"

 

"Ich habe damals viel verloren, weißt du? Und das Schlimmste war, dass ich nicht einmal richtig trauern konnte, weil mir mein Kopf ständig sagte: ‘Selber schuld.’ Ich fühlte mich einfach nur leer."

 

Er lacht trocken.

 

"Das Schwierigste im Leben ist es, Herz und Kopf dazu zu bringen, zusammenzuarbeiten. In meinem Fall verkehrten sie nicht einmal auf freundschaftlicher Basis miteinander. Trotzdem habe ich es ein paar Wochen lang mit dem Neuanfang versucht. Ich habe Bewerbungen geschrieben, schlecht geschlafen und leider zu viel getrunken. Und dann kam es so, wie es eben kommen musste: Die Wohnung wurde zu groß für jemanden, der plötzlich kein Einkommen mehr hatte. Ich habe Dinge verkauft, erst die Möbel, dann die Espressomaschine und schließlich sogar meine geliebten Schallplatten. Ich dachte, wenn ich nur tief genug falle, finde ich vielleicht den Boden wieder. Aber er kam nicht. Als der Gerichtsvollzieher kam, bot ich ihm einen Kaffee an. Es gab natürlich keinen mehr. Zwei Wochen später hatte ich mehr Plastiktüten als Perspektiven. Aber man muss auch das Positive sehen. Ich habe mehr Zeit, frische Luft, weniger Meetings und gute Gespräche. Und mir wurde einiges klar."

 

Clara lächelte. "Und was?"

 

"Woran unsere Gesellschaft krankt. Vielleicht wäre alles einfacher, wenn man von Anfang an denjenigen zuhören würde, die den Job machen, statt später Systeme einzuführen, in denen niemand mehr versteht, was der eigentliche Job war. Dann bräuchte es vielleicht weniger Meetings, weniger Dashboard-Farben, weniger Coaches und mehr Respekt für diejenigen, die morgens früh die Ärmel hochkrempeln, während andere noch PowerPoint-Folien formatieren."

 

Clara sagte eine Weile nichts. Sie blickte erst auf ihren Becher, in dem der Kaffee längst kalt geworden war, und dann wieder zu Malte. "Ich glaube, das steht in keinem Lehrbuch", sagte sie leise. 

 

Malte grinste. "Na, dann kannst du ja eins schreiben."

 

Sie lachten beide. Es war kein lautes, befreites Lachen, eher eines, das zwischen den Worten hängen blieb. Dann war es wieder still. Doch diesmal war es kein unangenehmes Schweigen, sondern eines von der vertrauten Sorte.

 

Am Ende des Nachmittags wusste Clara, dass man manchmal mehr hilft, wenn man einfach nur zuhört. Und Malte? Er spürte zum ersten Mal seit Wochen, dass er mehr war als nur ein Schatten im Düsseldorfer Straßenbild.

 

Ivano Fargnoli ( 2025 )